Stadiontour 2024
Stadiontour – Fußballkultur in Gelsenkirchen zwischen Mythos S04 und Helden der Kreisliga
Der „Mythos S04“ mit der legendären „Glückauf-Kampfbahn des F.C. Gelsenkirchen-Schalke 04“ bildete am 17. März 2024 den Auftakt zur Neuauflage der Stadiontour aus dem letzten Jahr. Dieses Mal war der Treffpunkt wegen der Umbauarbeiten auf dem Ernst-Kuzorra-Platz der Nebeneingang auf Höhe der Tribüne, dieser liegt vor dem historischen Hauptportal. Peter Bork von der DJK Teutonia Schalke-Nord, dem derzeitigen Nutzer der Platzanlage, erinnerte zunächst an die Ursprünge des späteren Ausnahmeklubs. Dieser war hervorgegangen aus Jungbergleuten und Fabriklehrlingen im Umfeld der Zeche Consolidation I/IV, in deren Bereich 1928 das Stadion am (heutigen) Ernst-Kuzorra-Platz erbaut wurde. Endspiele fanden hier zwar nicht statt, wohl aber wurden hier unzählige spektakuläre Spiele der Oberliga-West und später der Bundesliga vor meist völlig überfüllten Zuschauerrängen ausgetragen. Die Gruppe hatte die Gelegenheit, die Katakomben der Tribüne mit ihren geschichtsträchtigen Umkleidekabinen zu besichtigen.
Die 19 Teilnehmer*innen der Tour machten sich danach auf den Weg durch das Hafen-Gebiet am Rhein-Herne-Kanal, durch den Nordsternpark zum nächsten Stadion mit großer Fußball-Geschichte: dem Fürstenberg-Stadion in Gelsenkirchen-Horst, im Arbeiterwohnbezirk der Zeche Nordstern ebenfalls 1928 gebaut. Reinhold Adam, leidenschaftlicher Stadtteilhistoriker in Horst, versetzte uns Zuhörer*innen auch dieses Mal mit famosem Detailwissen und viel Herzblut in die große Zeit der „Emscher-Husaren“, des STV Horst-Emscher. 1967 gewannen diese als krasser Außenseiter die deutsche Amateurmeisterschaft. In den 1970er Jahren setzte der Niedergang ein, den auch eine Fusion des Arbeitervereins STV mit der katholischen DJK Horst 08 nicht aufhalten konnte. Das mittlerweile ansehnlich hergerichtete Stadion in Horst-Süd, ist heute Spielstätte der Gelsenkirchen Devils (American Football) und des BV Horst-Süd (Kreisliga).
12 Kilometer nördlich lag unser nächstes Ziel. Vorbei am Schloss Horst, durch Horst-Nord, die Bülser Heide, vorbei an ehemals imposanten Steiger-Villen in Hassel erreichten wir die Sportanlage Lüttinghof, Beispiel einer „Bezirkssportanlage“ der Stadt Gelsenkirchen, wo wir über den Umbau des 70.000 qm großen Areals zu einem multifunktionalen „Sportpark“ mit Ausstrahlung in den ganzen Stadtteil informiert wurden. Der Vorsitzende des SC Hassel, Jörg Böving, verdeutlichte uns an vielen Einzelbeispielen, wie schwierig die Zeit der Umbauarbeiten für die beiden Vereine der Sportanlage ist.
Aktuell teilen sich der 1919 gegründete SC Hassel und der 1993 gegründete YEG Hassel (Yunus Emre Genclik) die Spielstätte. Von Erol Iyercin konnten wir etwas über Gründungsgeschichte von YEG Hassel und die integrationspolitische Problematik türkischer Vereine erfahren. Diskutiert wurde schließlich der Umgang mit Diversität im Fußballalltag der Amateurligen. Interessant in diesem Zusammenhang: Auch etwa 80% der aktuellen Mitglieder des SC Hassel haben einen Migrationshintergrund, mit hohem Anteil ukrainischer Menschen.
Frank Kaczmarzik, Vorsitzender des Schiedsrichter-Ausschusses für den FKV Gelsenkirchen steuerte in einem längeren Gespräch interessante Insiderinformationen zum Schiedsrichterwesen bei. Gewaltsame Auseinandersetzungen gebe es hin und wieder, mitunter auch in heftiger Form. Insgesamt eskaliere Gewalt im Amateurfußball aber nicht, sondern werde im Zeitalter sozialer Medien schneller und öffentlichkeitswirksamer kommuniziert. Die allermeisten Vereine seien strikt auf eine gewaltfreie Vereinskultur bedacht. Anders als eher ländliche Fußballkreise gebe es in Gelsenkirchen keine Nachwuchsprobleme. Der fachliche Anspruch der Schiedsrichterausbildung und der kontinuierlichen Schulung seien hoch und angesichts komplexer Regeländerungen (etwa zum Thema „Handspiel“) unverzichtbar. Auch Bezahlung und Beurteilung von Schiedsrichter*innenleistungen waren ein Thema.
Die Tour führte uns danach durch den Glückaufpark Hassel, vorbei an der Platzanlage des SSV Buer (Löchterheide) durch Resse zur 9 Kilometer südöstlich liegenden Bezirkssportanlage „Im Emscherbruch“. Hier spielen ein „Traditionsverein“, Resse 08, und Viktoria Resse. Beide Vereine versuchen offenbar neue Wege des Vereinslebens über den traditionellen Fußballsport hinaus zu gehen. Dafür sprechen Angebote wie „Walking Football“ oder der „Biker Park“ auf der Anlage.
Durch den Resser Wald und über die Erzbahntrasse führte der Weg zum Südstadion in Ückendorf, dem Stadion mit der größten Zuschauerkapazität im Amateurfußball in GE. Die 1967 erbaute geschichtsträchtige Spielstätte hatte ihre große Zeit mit der SG Eintracht Gelsenkirchen in der 2. Liga West und der Regionalliga West. Aktuell steht das Südstadion exemplarisch für die überfällige Sanierung städtischer Spielstätten. Bei Getränken, Kuchen und Bratwurst berichtete Jens Polleit (SG Eintracht) als Vertreter von Eintracht Gelsenkirchen, dass nun der seit Jahren überfällige Umbau des Südstadion Fahrt aufnehme und nicht nur die Zuschauer*innenränge zurückgebaut und saniert werden, sondern auch eine Kunstrasen-Anlage neu anstehe. Wir erfuhren unter anderem, dass beide Vereine wesentliche Aufgaben der Instandhaltung der Anlage , der Jugendarbeit sowie des Mädchenfußballs über Aktivitäten finanzieren, die im Stadtteil fest verankert sind, zum Beispiel Open-Air-Konzerte auf der Platzanlage oder das traditionelle Osterfeuer am Ostersonntag, das regelmäßig Hunderte von Menschen aus Ückendorf anzieht.
Eine ganze andere Situation, abseits der im DFB organisierten Fußballwelt, erwartete die Teilnehmer*innen nach ca. 4 km Fahrradstrecke über die Trasse der Kray-Wanner-Bahn am Halfmannshof, der Spielstätte der DJK Schwarz-Weiß Gelsenkirchen (Kreisliga). Dieser Aschenplatz diente auch „Fortuna Unglück“, einem 1979 gegründeten freien Zusammenschluss von Fußballbegeisterten als Platz für das wöchentliche Fußballspielen. Als „Meister der sportlichen Haltung“ verstand Fortuna sich als Teil einer links-alternativen Fußballkultur, die sich damals in der Bundesrepublik herausgebildet hatte. Fortuna erreichte 1998 ihren „größten Erfolg“ mit einem 22. Platz bei der deutschen Alternativfußballmeisterschaft in Bremen (unter dem Motto „Es gibt etwas Besseres als den DFB“ in Anlehnung an die Bremer Stadtmusikanten). Fortuna zelebrierte Fußballspielen als „Kultur“, ganz im Geiste des Mitgründers und der Seele Fortunas, Ulrich „Spiggi“ Spiegelberg (1950-2018). „Vereinsversammlungen“ hatten eher den Charakter von Happenings. Günter Jahn konnte als seinerzeit Aktiver über die Gründungs- und Vereinsgeschichte berichten. Beim aktuellen Spielbetrieb bei Fortuna, den es nach wie vor jeden Montagabend gibt, herrscht immer noch ein Geist, der sportlich quer zum Leistungsprinzip steht („wichtich is aufm Platz“) und einen kulturellen Anspruch hochhält (literarisch und musikalisch).
Den Abschluss der Stadiontour bildete der Besuch der Sportanlage an der Dessauer Straße, Spielstätte des Kreisligisten SV Union Neustadt 73. Nach kurzer Fahrt durch den Rheinelbepark, vorbei am Wissenschaftspark sowie Justizzentrum empfing uns der Vereinsvorsitzende Wolfgang Jeske. Die Sportanlage mit gepflegtem Rasen- und Aschenplatz liegt inmitten des Stadtquartiers vollständig eingefriedet. Wie viele Vereine in Gelsenkirchen, hat auch der Neustädter Verein mit den Vereinsfarben Blau-Gelb eine Fusionsgeschichte. Gegründet 1973 als SV Neustadt 73 fusionierte der Verein 1998 mit der Union Gelsenkirchen 55 und trug fortan den Namen SV Union Neustadt 73. Die Platzanlage an der Dessauer Straße hat eine noch längere Geschichte, die eng mit dem Gussstahlwerk in Ückendorf (heute Wissenschaftspark) verbunden ist. Dieser von den Nationalsozialisten im Krieg zur Rüstungsproduktion genutzte Großbetrieb stellte mit „Gelsenguß Gelsenkirchen“ den in den Jahren des Weltkriegs hinter Schalke 04 in der „Bereichsliga Gau Westfalen“ erfolgreichsten Gelsenkirchener Fußballverein. Heute unterhält Union Neustadt die Platzanlage in Eigenregie. Der sportliche und soziale Alltag ist geprägt von einem durch Zuwanderung stark veränderten Wohnumfeld im Quartier. Längst ist Union Neustadt kein reiner „Kiez“-Klub mehr, der seine Mitglieder, Zuschauer*innen und Spieler (fast) ausschließlich aus dem Quartier rekrutiert.
Günter Jahn und Wolfram Schneider, von Maja Tölke bearbeitet